Städte und Träume sind aus Wünschen und Ängsten geformt, auch wenn der Faden ihres Diskurses
geheim ist, ihre Regeln absurd, ihre Perspektiven täuschend sind und jedes Ding etwas anderes verbirgt“

Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte

Nina Annabelle Märkl und Katharina Kohm schicken uns auf eine Reise. Sie geben uns Worte und Bilder auf den Weg – Erzählstränge, die zum Reiseplan werden – die Richtung wird uns überlassen. Den bildpoetischen Reisebericht können wir mit anderen teilen.

Die kombinatorische Methode, auf der das künstlerische Experiment „INTER_NARRATIVE_SCAPES“ beruht, ist eine interaktive Praxis, die Außenstehende zu Mitschaffenden macht.

Zu den prominenten Beispielen solcher Kombinatorik in der Literatur gehört unter anderem Italo Calvinos Roman „Die unsichtbaren Städte“, dessen Idee und Inhalt, basierend auf phantasievollen Reiseberichten Marco Polos für Kublai Khan, bei näherer Betrachtung mehrere Überscheidungspunktemit den Bildinseln und Wortpfaden der beiden Künstlerinnen hat.

In erster Linie geschieht dies aufgrund der flexiblen, fragmentarischen Erzählstruktur. In Calvinos Narration ist die poetische Mathematik der einzelnen Kapitel vorbestimmt, dennoch schließt sie eine variable Leserichtung oder gar mehrere nicht aus. Und eine solche Richtungsänderung würde nicht die Ganzheitlichkeit des Werks angreifen.

Katharina Kohm und Nina Annabelle Märkl geben uns zwar keine Reihenfolge vor, treffen aber im Vorhinein eine Auswahl der Bilder und Texte, über deren Kombination die Gäste des Projekts dann entscheiden dürfen. Der kombinatorische Impuls wird zur Inspiration, dem verbindenden Element für alle Beteiligten, das für stets individuelle Lösungen sorgt. Diese Flexibilität und Individualität der Erzählinseln schafft Lebendigkeit.

Ein weiterer wichtiger Aspekt dieser Kombinatorik ist die Gleichwertigkeit von Bild und Text. Beide sind unentbehrlich, ihre Verbindung ist weder illustrativ noch erklärend, sondern assoziativ. Diese Balance zwischen Bild und Wort ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt in Calvinos Roman. Marco Polos Reiseberichte sind sehr sinnlich verfasst. Seine Schilderungen beziehen weitaus mehr als Worte ein: „… als der junge Venezianer mit seinem Bericht an die Reihe kam, entstand zwischen ihm und dem Kaiser eine andere Kommunikation … den Sprachen des Ostens total unkundig, konnte sich Marco Polo nicht anders als durch Gesten, Sprünge, Ausrufe der Bewunderung und des Entsetzens, Bellen und andere Tierlaute ausdrücken, oder durch Gegenstände … Zurück von den Missionen, mit denen ihn Kublai betraut hatte, improvisierte der einfallsreiche Fremde Pantomimen, die der Herrscher sich deuten musste … Die Beschreibungen der von Marco Polo besuchten Städte hatten diese schöne Eigenschaft: dass man in Gedanken darin umherspazieren, sich in ihnen verlieren konnte…“ Sobald der Venezianer jedoch der Sprache des Kaisers kundig war „wurden die Gegenstände und Gesten in Marcos Erzählungen durch Worte ersetzt … Aber man hätte gesagt, dass die Kommunikation zwischen ihnen nicht mehr so glücklich war wie zuvor…“

Das Unpräzise der Erzählung macht gerade ihren Charme aus. Rätsel, für die es keine oder mehrere Lösungen gibt, verzaubern weitaus mehr als Fakten. Marcos Lösung für die „glückliche Kommunikation“ war die Wiederkehr „zu Gesten, Grimassen und Blicken zurück“. Ninas und Katharinas Lösung ist die feine Balance zwischen der Abstraktion und der Gegenständlichkeit, gleichermaßen in Zeichnungen und in Lyrik. Sie geben uns Andeutungen, führen Linien und Worte zu Formen, lösen sie auf, lassen uns sie überlagern, um unsere Gedanken in diesen neuen Wortarchitekturen und unsichtbaren Städten wohnen zu lassen, darin umherzuspazieren, uns in ihnen verlieren zu können, Marco Polo und Kublai Khan zugleich sein.

DR. OLENA BALUN

ist Kuratorin und Kunsthistorikerin. In ihren Konzepten spielt die Narration eine wichtige Rolle. Eine Ausstellung sieht sie als einen Gedankenkonstrukt, ein Spannungsfeld, in dem Kunstwerke kontextualisiert werden. Das Ziel ist weder die Deutung noch die Unterordnung der Kunst einer Erzählperspektive, sondern das Setzen von prägnanten Impulsen für mögliche Blickrichtungen.

Das Verhältnis zwischen Wort und Bild in künstlerischen Konzepten interessiert die Kuratorin ganz besonders. 2021 hat sie mehrere Projekte initiiert, die sich auf verschiedene Art und Weise mit diesem Thema befassen, darunter die Ausstellungen „Fahrenheit“ (mit Philipp Stähle in der Galerie arToxin, Abb. 3) und „Ex Voto“ (mit Hannes Stellner, Lara Koch, Claudia Starkloff und Max Theo Kehl in der Galerie Smudajescheck, Abb. 1 und 2).

Die Mitarbeit am Projekt INTER_NARRATIVE SCAPES ist ein weiterer Schritt in diese Richtung. Der besondere Umstand, dass nicht nur die künstlerisch-literarischen Grenzen hier ausgelotet werden können, sondern die Möglichkeiten für Gestaltung und den strukturellen Eingriff bestehen, macht diese Kooperation besonders spannend.

KURZVITA

Von 1999 bis 2004 Magisterstudium der Deutschen und Englischen Philologie an der Taras-Ševčenko-Universtität Kyiw, von 2004 bis 2009 Magisterstudium der Mittleren und Neueren Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians Universität München mit anschließender Promotion von 2009 bis 2014.

Von 2014 bis 2016 arbeitet sie als wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Kunstgeschichte an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Schwerpunkt Kunst des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Seit 2017 widmet sich Olena Balun verstärkt der zeitgenössischen Kunst, ab 2018 ist sie als freie Kuratorin und Kunsthistorikerin tätig und hat mehrere Projekte mit Münchner Galerien initiiert, arbeitet projektbezogen für die Städtische Galerie Rosenheim und ist Vorsitzende des Kunstvereins Rosenheim.

WWW.OLENABALUN.DE

INSTAGRAM

Diese Anwendung ist nicht für mobile Geräte konzipiert. Bitte nehmen Sie sich die Zeit das Kunstprojekt an einem Laptop oder Desktop-Rechner zu erkunden.